Antonio Altarriba / Kim: Die Kunst zu fliegen Die Geschichte der Verlierer

Belletristik

Antonio Altarriba (Senior) war ein ganz „normaler" Mann vom Lande. Hier wird seine Lebensgeschichte in Wort und Bild erzählt - und damit zugleich die spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Antonio Altarriba am Comic Festival von Barcelona, April 2019.
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Antonio Altarriba am Comic Festival von Barcelona, April 2019. Foto: Ferran Cornellà (CC BY-SA 4.0 cropped)

9. Januar 2022
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„Mein Vater beging am 4. Mai 2001 Selbstmord.“ (S. 5) Mit diesem Satz beginnt der Graphic Novel „Die Kunst zu fliegen“ und fährt in einer Art Epilog damit fort, diesen Selbstmord zu beschreiben: Wie der alte Herr sich am Aufsichtspersonal des Altersheim vorbei schleicht, sich mühsam im Treppenhaus in den vierten Stock schleppt, mit Hilfe eines Stuhls die Hürde des Fensterbretts nimmt und schliesslich seine Pantoffeln auf dem Fensterbrett zurücklässt.

Während dieser Darstellung erfolgt zugleich eine merkwürdige Identifikation des Sohnes beziehungsweise Erzählers mit dem Vater. Dieser zugrunde liegt ein „Blutsbündnis“ zwischen beiden, das im Franco-Spanien nach dem Bürgerkrieg der einzige Lichtblick des Vaters war. Antonio Altarriba senior hatte sich nach der Niederlage im Krieg und den Verlust seiner Hoffnungen in eine Art inneres Exil zurückgezogen und nur die Existenz seines Sohnes macht ihm das Leben erträglich.

Diese enge Bindung ermöglicht es dem Autor, in die Rolle seines Vaters zu schlüpfen, sodass im Folgenden in die Ich-Erzählerperspektive gewechselt wird, um das Leben Antonio Altarribas (Senior) darzustellen: aus der Sicht des Vaters, aber mit der Perspektive des Sohnes (S. 7). Die Geschichte, die erzählt wird, ist die des Seniors, Erzähler hingegen ist der Sohn.

Auf dem spanischen Land in der Nähe des Dorfes Peñaflor geboren, entwickelt Antonio schnell einen Widerwillen gegen den autoritären Vater und seine diesem ähnelnden älteren Brüder ebenso wie eine Abneigung gegen das Elend des Landlebens, das die Bauern dazu treibt, einander gegenseitig die Felder streitig zu machen, bis sie irgendwann anfangen diese zu ummauern. Insgesamt ist es eine Abneigung gegen gewalttätige Autorität, das Elend der Menschen und die Beschränkung der Freiheit, die Antonio sein Leben lang begleiten wird.

Doch trotz seines Kampfes in einer anarchistischen Miliz während des spanischen Bürgerkrieges und später, nach der Niederlage in diesem Krieg, im Kampf der französischen Résistance gegen die Nazis, war Antonio nie wirklich politisiert und könnte nicht als explizit politischer Aktivist bezeichnet werden. Vielmehr wird das Leben eines „Durchschnittsspaniers“ mit starken Gerechtigkeitsempfinden in den politischen Wirren des 20. Jahrhunderts dargestellt. Stilistisch werden die Etappen seines Lebens in die Etagen des Altersheims gegliedert, die er im Fall aus dem vierten Stock passiert.

Die „Unaufgeregtheit“ des Lebens Antonios trägt viel zum Charme des Werkes bei. Trotz der eben geschilderten historischen Geschehnisse ist er nie auf eine berühmte Persönlichkeit getroffen oder hat an wichtigen singulären historischen Ereignissen teilgenommen. Er stand nie im Zentrum der Ereignisse oder war in Entscheidungspositionen.

Vielmehr zeigt sich wie die politischen Umbrüche auf das Leben eines Menschen wirken, welcher nur seinem freiheitsbewussten Gewissen folgt – was ihn zum Überlaufen von der faschistischen zur republikanischen Seite bringt und später auch in die Arme der Résistance. Ein Gewissen und eine Überzeugung, die er nach der Rückkehr nach Spanien 1949 verstecken muss. Antonio flieht nicht oder geht in den spanischen Untergrund: Er wählt das innere Exil. Diese fehlende politische Positionierung, die Fortsetzung des Kampfes, macht die Geschichte Antonios zu der eines „durchschnittlichen“ Spaniers des 20. Jahrhunderts, nicht zu der eines Berufsrevolutionärs.

Zur dieser Unaufgeregtheit tragen auch die Bilder des Zeichners Kim (Joaquim Aubert Puigarnau) bei. Komplett in schwarz-weiss und realistisch gehalten ergänzen sie perfekt die Erzählweise, welche hauptsächlich über Textfelder über den Bildern funktioniert, während die Zeichnungen, klassisch in Comicpanels, mit den Sprechblasen die Handlungsebene bilden. Diese doppelte Erzählstruktur zeigt die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Graphic Novel auf, welche in diesem Werk überzeugend genutzt werden. So stehen sich hier zwei Ebenen simultan gegenüber: die (auto)biographische Erzählung und die bildliche Darstellung dieser Erzählung.

Grundlage für die Geschichte bildeten die Gespräche des Autors mit seinem Vater und die auf seine Bitte hin vom Vater niedergeschriebene Lebensgeschichte. Die Geschichte nimmt die Lesenden mit in die Ablehnung der Verhältnisse auf dem Land, in die Hoffnung des Umbruchs, die im spanischen Bürgerkrieg mündet, in die Wirren der Nachkriegszeit mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und ebenso in die Frustration des religiös-autoritären Franco-Spaniens bis hin zur Demokratisierung nach Francos Tod, die den autoritären Geist jener Tage jedoch nicht zum Verschwinden bringen kann.

Zugleich birgt der letzte Teil, der das Leben von Rentner_innen in einem Altersheim voller entmündigender Regeln schildert, eine komische Tragik. Hier finden sich auch Traumsequenzen, die den Depressionen Antonios Ausdruck verleihen und den Selbstmord als logische Konsequenz eines, nach der Niederlage im Bürgerkrieg, gescheiterten Lebens erscheinen lassen. Gescheitert mit Massstäben, die im kurzen Sommer der Anarchie aufblühten und danach versteckt werden mussten, ohne aber von Antonio aufgegeben worden zu sein. So wurde Antonio junior jedes Jahr in den Sommerferien nach Frankreich zu alten anarchistischen Freunden aus dem spanischen Bürgerkrieg geschickt, um eine andere Perspektive auf die Welt zu bekommen, jenseits vom „faschistisch-geistlichen Einfluss“ (S. 153).

„Die Kunst zu fliegen“ ist ein überzeugendes Stück Sozialgeschichte, transportiert über das interessante Medium der Graphic Novel, welches sich als Mittel der biographischen Darstellung einmal mehr als sehr passend erweist. Aus explizit politischer Perspektive wäre ein stärkerer Bezug auf die politischen Zusammenhänge wünschenswert gewesen, beispielsweise durch einen Aufsatz im Anhang. Dieser besteht hier aus einem Nachwort von Antonio Martin (spanischer Comic-Verleger und -Historiker), welcher einige Informationen zu den Machern und dem Werk ergänzt. Trotz der fehlenden ausführlichen politischen Kontextualisierung ist es ein Werk, das sich im Bücherregal einen würdigen Platz zwischen Abel Paz' Durruti-Biographie und „La CNT y la Revolucion Social“ verdient hat.

Thomas Möller
kritisch-lesen.de

Antonio Altarriba / Kim: Die Kunst zu fliegen. Avant-Verlag, Berlin 2012. 208 Seiten. ca. 27.00 SFr, ISBN 978-3-939080-69-5

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